Bell hat geschrieben:Ist Dir bewust, dass die weit überwiegende Zahl der Lehrbücher (so übrigens auch mein uralter Dorn) die 'Trägheitskraft' exakt so definieren, wie Leifiphysik es in dem verlinkten Beispiel tut?
Das schließt natürlich nicht aus, dass die alle falsch liegen, ... könnte ja aber nachdenklich stimmen.
Darüber muss man nicht nachdenken, denn die Darstellungen der Trägheitskraft bei Leifi sind richtig!
Nach Newton I sind kräftefreie Körper entweder gleichförmig linear bewegt oder ruhend.
Nach Newton II muss eine Kraft aufgewendet werden, um einen inertialbewegten oder ruhenden Körper aus seinem Zustand zu bringen, entweder als Änderung seiner Bewegungsrichtung oder als Änderung seiner Geschwindigkeit.
Nach Newton III wirkt jede angelegte Kraft symmetrisch auf beide Körper, d.h. der kraftausübende Körper erfährt dieselbe Kraft, die er auf einen anderen Körper ausübt auch selbst in der entgegengesetzten Richtung. Wobei die ausgeübte Kraft als Aktionskraft und die Gegenkraft als Reaktionskraft bezeichnet wird.
Vorbemerkung: Um eine Glasscheibe mittels Wechselwirkung mit einem Stein zu zerschmettern, gibt es 2 Möglichkeiten. Entweder werfen wir den Stein auf die Scheibe (Fall 1) oder wir werfen die Scheibe auf den Stein (Fall 2). Im Fall 1 zerbricht die Scheibe infolge der Aktionskraft des Steins. Im Fall 2 zerbricht die Scheibe infolge der Reaktionskraft des Steins. Im Fall 1 übt der Stein die aktive Kraft aus, im Fall 2 übt die Scheibe die aktive Kraft aus.
Folgende Situation: In einem inertial bewegten PKW liegt ein Stein. Wir betrachten den PKW von außen aus einem Inertialsystem. Es liegen also vorerst 2 Inertialsysteme vor. Es gelten in beiden Inertialsystemen die Newtonschen Gesetze.
Nun bremst der PKW plötzlich ab und wir sehen, dass der Stein seine inertiale Bewegung fortsetzt und ihm die Windschutzscheibe des PKW entgegen kommt und auf ihn trifft. Da es der Stein ist, der einen Zustand nach Newton I hat, ist es die Winschutzscheibe, die nun nach Newton II eine aktive Kraft auf den Stein ausübt und seine Geschwindigkeit verändert. Die Scheibe zerbricht infolge der Gegenkraft nach Newton III - gemäß dem Fall 2 in der Vorbemerkung.
Aus dem Außensystem beschreibend haben wir einfach Newton I bis III angewendet, um den Vorgang zu erklären. Ein inertial bewegter Stein (N I) wird durch die Kraft einer Winschutzscheibe aus seinem Zustand gebracht (N II), wobei sie selbst zerbricht (N III). Nach Fall 2 war die Winschutzscheibe der kraftausübende Part der Wechselwirkung und der Stein der vormals kräftefreie. Alles kein Problem. Eine Trägheitskraft oder Scheinkraft gibt es nicht, denn wir haben ja lediglich die praktische Verwirklichung der 3 Newtonschen Gesetze gesehen! In diesen 3 Gesetzen scheint eine Trägheitskraft nirgends auf!
Sehen wir uns nun an, wie ein mitfahrender Beobachter im PKW die Situation beurteilt. Solange der PKW sich inertial bewegt, ist Newtons Welt für ihn in Ordnung. Nun bremst der PKW und das Bezugssystem des Beobachters verwandelt sich in ein beschleunigtes, also nichtinertiales BS. Der Beobachter sieht, dass sich der Stein plötzlich in Bewegung setzt, sich beschleunigt (!) zur (in diesem BS ruhenden!) Windschutzscheibe bewegt und diese zerschmettert. Der Beobachter erkennt, dass Newtons Gesetze in seinem Bezugssystem plötzlich nicht mehr gelten. Denn der Stein hat sich in Bewegung gesetzt, ohne dass eine Kraft auf ihn ausgeübt worden wäre und er bewegt sich zudem beschleunigt zur Winschutzscheibe. Hier übt er auf die Scheibe offensichtlich eine aktive Kraft aus, der sie nicht standhält und zerbricht. Für den Außenbeobachter war es die Windschutzscheibe, die eine Kraft auf den Stein ausgeübt hat (Fall 2), für den Innenbeobachter ist es offenbar der Stein, der eine Kraft auf die Windschutzscheibe ausübt (Fall 1)! Das ist eine für den Innenbeobachter völlig unterschiedliche Situation als für den Außenbeobachter, und der Innenbeobachter kann keine Beschreibung nach den Newtonschen Gesetzen abliefern, denn eine Ursache für die plötzliche Bewegung des Steins und seine aktive Kraftausübung ist für ihn nicht auffindbar. Es fehlt der kraftausübende Körper, welcher den Stein in Bewegung gesetzt haben und ihm die Beschleunigung verleihen hätte müssen, um die Winschutzscheibe zerschmettern zu können! Er sieht praktisch Newton II ohne Ursache. Und Newton III müsste für ihn nun eine auf den Stein wirkende Gegenkraft sein, denn für ihn übt ja der Stein die aktive Kraft aus, wogegen vom IS aus beobachtet es die Windschutzscheibe war!
Da es Bewegungsänderung nach Newton II nur gibt, wenn eine Kraft auf den Stein ausgeübt wird, muss der Innenbeobachter diese Kraft einfach voraussetzen, und da sie im Sinne der 3 Newtonschen Gesetze keine Ursache hat, bezeichnet er sie als "Scheinkraft" - was freilich ein irreführender Begriff ist, denn in seinem Bezugssystem sind ja Wirkungen dieser Kraft festzustellen (beschleunigte Bewegung des Steins und zerschmetterte Windschutzscheibe!). Auf die eigentliche Ursache abzielend nennt man diese Kraft für die Bewegung und für die Zerstörung der Winschutzscheibe auch "Trägheitskraft". Der Innenbeobachter muss sie verwenden, um den Vorgang im Sinne der Newtonschen Gesetze beschreiben zu können.
Der Außenbeobachter muss das nicht. Er sieht hier ja nichts, was die Annahme einer solchen Kraft rechtfertigen würde! Für ihn waren die 3 Newtonschen Gesetze während des ganzen Vorgangs gültig. Und so gibt es eben den Umstand, dass im beschleunigten BS eine Kraft auftaucht, die beim Wechsel ins Inertialsystem verschwindet. Und da wurde sie nicht der ART zu Gefallen "abgeschafft", denn das wäre total widersinnig, weil gerade in der ART die Trägheitskräfte das Um und Auf sind! Was die ART praktisch tatsächlich abschafft, sind die aktiven Kräfte und sogar die Gravitation wird hier zur Trägheitskraft "degradiert". Einstein versuchte auf diese Weise, die Problematik des Kraftbegriffs an und für sich zu lösen.
Grüße
Harald Maurer