aristo hat geschrieben:Dann sind wir uns einig in der Einschätzung, das Uhren keine Zeit messen.
Uhren messen im gleichen Sinn die Zeit wie Maßstäbe den Raum messen. In beiden Fällen ist es eine Messung durch Vergleich, und nicht durch Einwirkung des zu Messenden auf das Messinstrument (wie das z.B. bei einem Quecksilberthermometer der Fall ist).
Uhren repräsentieren stets ein bestimmtes Intervall, das zwischen Ursache und Wirkung liegt oder das Tempo von Wechselwirkungen bestimmt. Man kann also mit Uhren sehr gut unterschiedliche Intervalle feststellen - und das ist im weitesten Sinne nichts anderes als eine Messung der Zeit. Somit ist Zeit selbstverständlich eine physikalische Größe, die man an Uhren ablesen kann - je nachdem auf welches Zeitmaß man sich festgelegt hat. Im übertragenen Sinn ist jede Abfolge physikalischer, kausaler Prozesse eine Uhr - und verändert sich das Tempo dieser Prozesse, so verändert sich somit die Zeit. In allen Ereignissen steckt demnach die Zeit - und an Uhren liest man sie ab. Sie setzen mit ihren periodischen Intervallen ein Maß für die Zeit und unterliegen ebenso wie das zu Messende den Bedingungen des Ortes. Das führt zu Einsteins richtiger Feststellung, dass Zeit das ist, was man an Uhren ablesen kann und zweitens dazu, dass Uhr und Zeit vom Ort abhängig sein können, weil unterschiedliche physikalische Bedingungen existieren.
aristo hat geschrieben:Ist es möglich, dass es eine "All-Zeit" gibt und innerhalb dieser verschiedene
(je nach Geschwindigkeit) "Local-Times" existieren?
Diese Möglichkeit findet man in der Äthertheorie von Lorentz, in welcher die "All-Zeit" gewissermaßen von einer im Äther ruhenden Uhr angezeigt wird, wogegen eine im Äther bewegte die "Local-Time" (Ortszeit) zeigt. Dieses Phänomen beruht auf der Annahme, dass der Äther auf irgendeine Weise den Gang von Uhren (und somit auch die Intervalle zwischen allen anderen Wechselwirkungen innerhalb von im Äther bewegten Körpern) beeinflusst, quasi eine bremsende Wirkung ausübt. Damit würde sich die Zeit in relativ zum Äther bewegten materiellen Körpern tatsächlich verlangsamen - was ein Vergleich zu einer ruhenden Uhr zutage bringen würde.
Diese These von Lorentz ist zwar einigermaßen plausibel, praktisch ist sie aber nicht, denn bei allen Berechnungen müsste man den Bewegungszustand des zu Messenden im Äther kennen. Einstein hat das vereinfacht, indem er die Ätherfunktion negierte und dafür Raum und Zeit relativierte, was insoferne ebenfalls plausibel ist, weil ja- wie vorhin erwähnt - es tatsächlich eine (durch Bewegung im Äther) relativierte Zeit geben könnte. Wenn Uhren unterschiedlich laufen und man mit diesen Uhren den Raum bemisst, ergibt sich auch, dass Längen relativ werden und postuliert man die Lichtgeschwindigkeit als invariant, landet man prompt in der Relativität der Gleichzeitigkeit. Das IST insofern ein genialer Schachzug, als es die Berücksichtigung des Äthers erspart und man mit den Formeln von Lorentz rechnen kann, taugt aber nicht als Naturbeschreibung, weil es zu Paradoxien bzw. zu absurden Aussagen führt.
aristo hat geschrieben:Einstein hat nur einmal das Zwillingsparadoxon angesprochen. Aus gutem Grund.
Es existiert nämlich nicht.
Das Zwillingsparadoxon ist kein Paradoxon, sondern eine Absurdität, die deutlich zeigt, dass Einsteins Idee zwar eine praktische Methode ist, aber die Grundannahmen, die beiden Postulate, in der Natur nicht verwirklicht sein können. In der Lorentzschen These kann man das Zwillingsparadoxon von vornherein nicht aufstellen, weil man dazu a priori annehmen müsste, dass der zurückbleibende Zwilling tatsächlich im Äther ruht, wogegen der Reisende sich im Äther bewegt - aber das kann man eben nicht wissen oder messen. Theoretisch würde im Idealfall aber dasselbe Ergebnis herauskommen wie bei Einstein - nur mit dem Unterschied, dass das Phänomen unterschiedlichen Alterns auf eine Wirkung des Äthers zurückgeführt werden könnte, wogegen es bei Einstein durch die Wahl von Koordinatensystemen zustandekommt - was natürlich von vornherein absurd ist.
Es ist klar, dass Einsteins praktikable Methode sich eher durchgesetzt hat als die auf komplizierten Annahmen basierende von Lorentz. Wer tatsächlich Recht hat, wird daher den Physiker kaum interessieren. Denn dieser misst und rechnet - nach Wahrheiten sucht er nicht; er erklärt uns das WIE und kümmert sich nicht um das WARUM. Deshalb werden die Relativitätstheorien Einsteins auch die nächsten 100 Jahre und länger in der Physik ihren Platz behaupten. Und ebenso lange heissen Diskussionsstoff liefern...
Grüße
Harald Maurer